Im Winter 1358/1359 ließ Herzog Rudolf IV. in seiner Kanzlei fünf Urkunden anfertigen, die als Originale der Jahre 1058, 1156, 1228, 1245 und 1283 gelten sollten und heute als Privilegium maius-Komplex bezeichnet werden. Mit ihnen behauptete er alte Vorrechte für die Landesfürsten von Österreich. Im November 1360 legte er der entscheidenden Autorität, Kaiser Karl IV., eine Abschrift vor, das sog. Vidimus, das diese falschen Urkunden raffinierterweise mit einigen echten Diplomen kombinierte.
Bei kaum einer anderen der zahlreichen Urkundenfälschungen des Mittelalters wurde ein vergleichbar großer Aufwand betrieben, um die Dokumente authentisch aussehen zu lassen. Die hier zusammengestellten Informationen geben vertiefende Einblicke dazu, wie mittels Material, Inhalt und Form versucht wurde, die Zeitgenossen zu täuschen, und erläutern die Methoden, mit denen die Urkunden in jüngster Zeit untersucht wurden.
Das 14. Jahrhundert brachte im Reich drei dominierende Familien hervor. Diese Familien, die Habsburger, Wittelsbacher und Luxemburger, stellten alle mehrere Könige, waren miteinander verwandt, bekämpften und verbündeten sich in unterschiedlichsten Konstellationen. Gleichzeitig ist diese Zeit grundlegend für die Verfassungsentwicklung des Reiches bis zu dessen Ende im Jahre 1806. Mit der Goldenen Bulle von 1356 legte Kaiser Karl IV. erstmals das Gremium der Königswähler, das sogenannte Kurfürstenkolleg, fest. Die sieben Kurfürsten, drei geistliche und vier weltliche, bilden von nun an die Reichselite. Die Habsburger zählten jedoch nicht zu diesem Kreis.
Herzog Rudolf IV. war der Schwiegersohn des Kaisers, Karls IV. (1316–1378), und sah sich gezwungen darauf zu reagieren, dass seine Dynastie, die Habsburger, durch die Goldene Bulle von 1356 nicht in den elitären Kreis der Königswähler, der Kurfürsten, aufgenommen worden war. Das minderte in seinen Augen das Prestige seiner Familie. So griff er zum Mittel der Fälschung, um die Stellung der österreichischen Länder im Reich und den Rang der Habsburger unter den Reichsfürsten zu untermauern. Insgesamt wurden fünf Urkunden angefertigt, die teilweise auf existierenden Vorurkunden basierten, teilweise frei erfunden waren. Sie geben vor, aus den Jahren 1058, 1156, 1228, 1245 und 1283 zu sein. Diese zeitliche Auffächerung sollte die Echtheit der formulierten Ansprüche untermauern. Im November 1360 wurden die Fälschungen Kaiser Karl IV. in Form einer Abschrift, eines sogenannten Vidimus, zur Bestätigung vorgelegt. Diese erfolgte aber nicht in allen Punkten, und der Herzog musste von seinen als Tatsachen formulierten Forderungen Abstand nehmen. Jedoch etwa hundert Jahre nach Entstehung des Fälschungskomplexes bestätigte der habsburgische Kaiser Friedrich III. 1453 den Inhalt der österreichischen »Freiheitsbriefe«. Rudolf IV. hatte also mit seinem fiktiven Forderungskatalog langfristig Fakten geschaffen, die bis zum Ende des Heiligen Römischen Reichs 1806 reichsrechtliche Gültigkeit besaßen. Der Streit um die Echtheit und die Entstehungszeit setzte erst im 19. Jahrhundert ein, als die politische Bedeutung der Dokumente nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reichs vollständig erloschen war.
Mit dem Fälschungskomplex wollte der Habsburger Rudolf IV. für die Herzöge von Österreich unter anderem einen bis dahin unbekannten Rang und Titel, den palatinus archidux, sowie eine eigene Insignie etablieren, die Elemente einer kaiserlichen Krone aufweisen sollte – später wurde sie Erzherzogshut genannt. Er ließ sich ein in mehrfacher Hinsicht außergewöhnliches Siegel schneiden, das diese und weitere Anmaßungen in Wort und Bild vor Augen führte. Kaiser Karl IV. verbot Rudolf IV. in weiterer Folge, die entsprechenden Titel, die Herrschaftszeichen und das Siegel zu führen. In seiner Residenzstadt Wien ließ sich der junge Herzog jedoch auch weiterhin mit genau diesen Insignien abbilden: dem Szepter und dem kronenartigen »Erzherzogshut«. Ein Original aus der Zeit Rudolfs IV. hat sich nicht erhalten, doch überliefern zeitgenössische Darstellungen des Herzogs auf Siegeln, in der Skulptur und Malerei dessen ungewöhnliche Form, die sich vielleicht an antiken Münzbildern orientierte, um als besonders alt und ehrwürdig zu erscheinen.
Zur technologischen Untersuchung, insbesondere zum Vergleich der Herstellungstechnik und der für die Ausführung des Fälschungskomplexes verwendeten Materialien, wurden die fünf gefälschten Urkunden des Privilegium maius sowie das Vidimus im Jänner 2017 im Kunsthistorischen Museum einer Reihe von Untersuchungen unterzogen. Dabei kamen bevorzugt zerstörungsfreie Untersuchungsmethoden zum Einsatz, die eine Reihe von strahlendiagnostischen Verfahren, darunter unterschiedliche photographische Techniken, Infrarotreflektographie (IRR) und Röntgendurchleuchtung, umfassten.
angeblich Thürnbuch
4. Oktober 1058
angeblich Regensburg
17. September 1156
angeblich Esslingen
24. August 1228
angeblich Verona
Juni 1245
angeblich Rheinfelden
11. Juni 1283
Wien
11. Juli 1360
Publikation
Falsche Tatsachen
Das Privilegium maius und seine Geschichte